
Was ist die „vierte Welle“ des Feminismus? Was zeichnet sie aus, ab welchem Punkt kann man davon sprechen, dass sie eingesetzt habe? Wo ist sie angekommen, wo schwillt sie an, wo erstirbt sie? Zu recht wurde die Rede von „Wellen“ des Feminismus kritisiert, als einer geschichtlichen Konstruktion, welche schon auf einen oberflächlichen Blick hin eurozentrische und amerikanozentrische Verengungen des Geschichtsbildes transportiert. Andererseits ist festzustellen, dass diese „Wave Narratives“ eine gewaltige politische Zugkraft haben, wirkmächtige Fiktionen also: Sie stellen „illukutionäre Akte“ dar, mit denen feministische Bewegungen ihrer Stärke und ihren Bruch mit zuvor angesetzten „Wellen“, ihren Inhalten, Vorgehensweisen und Beschränkungen markieren. Jeder der in die Rede über diese Wellen einstimmt, sie bestimmt, begrenzt, „beteiligt“ sich an der historischen Selbst-Schöpfung oder Selbst-Konstruktion dieser Wellen und gibt ihnen somit Realität, eine, die vielleicht intensiver ist als die von physischen Objekten. Diese illukutionären Akte sind aber nicht alle gleich beliebig: Manche Invokationen, man stünde in einer „Welle“ des Feminismus, sind gewaltsamer, einsamer oder auch imaginärer als andere. Insbesondere wenn Männer wie ich von so etwas sprechen, diese Wellen charakterisieren und unterteilen mag dies noch schwieriger wirken. Im Fall des spanischen Feminismus ist die Rede aber relativ berechtigt, zumindest ist die Stärke und Massenmobilisierungsfähigkeit einer neuen feministischen Bewegung deutlich zu sehen. Es ist keineswegs eine Übertreibung zu behaupten, dass in Spanien einer der weltweit aktivste Feministischen Bewegungen anzutreffen war. In Madrid gingen 2019, zum Gipfelpunkt der Bewegung, nicht weniger als 400.000 Menschen zum Weltfrauentag, den „8 M“ genannt auf die Straße, das ist mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Madrids, und beinahe ein Zehntel des Ballungsraumes. Bis heute ist der Feminismus in Spanien eine gesellschaftliche Kraft, an der keine politische Bewegung vorbeikann; sie treibt das Land nach Links und die neurechte, faschistische Welle, welche die übrige Welt an den Rand des menschlichen Ruins und der Verzweiflung bringt, an die Wand. Erfolgreich werden wieder und wieder Gesetze und Maßnahmen beschlossen, welche den spanischen Machismus in die Schranken weisen und den Boden verlieren lassen.

Ist es aber auch eine inhaltlich abgegrenzte Welle? Unterscheidet sie denn etwas von den üblicherweise genannten Charakteristika der feministischen Wellen? Dazu müsste zunächst einmal bestimmt werden, was den spanischen Feminismus angetrieben und ausgezeichnet hat, und wie er sich gegenüber anderen feministischen Wellen verhält. Die Ursprünge dieser spanischen Massenmobilisierung reichen weit zurück, bis in das Jahr 1997, als Ana Orantes bei lebendigem Leibe durch ihren ehemaligen Ehemann verbrannt worden ist, nachdem sie zwei Wochen vorher im Fernsehen schilderte, wie er sie 40 Jahre der Ehe über geschlagen und bedroht hatte.1 Diese beispiellose, ins bizarr terroristische übergehende Zuspitzung machistischer Gewalt entfachte ein allgemeines gesellschaftliches Umdenken, die staatlichen und privaten Fernsehsender im ganzen Land begannen, regelmäßig die Zahlen zur machistischen Gewalt in Spanien zu veröffentlichen, von der häuslichen Gewalt bis hin zum Mord. Dies, zusammen mit der Arbeit vieler Organisationen, Journalisten und Aktivisten, enfachte nach und nach die Welle des Feminismus in Spanien, die bis zum Jahr 2019 immer mehr Menschen mobilisieren konnte. Diese enorme Mobilisierungswelle ist wahrscheinlich auch auf den Aufstieg einer neuen rechten Kraft in Spanien zurückzuführen, der erklärt antifeministischen Partei Vox, die wie viele andere neu-rechte Parteien in dieser Zeit stark wurde, im Gegensatz zu anderen Ländern (wie etwa Italien, Deutschland, England, USA) aber in Spanien (auch durch den Feminismus) in (zumindest bis jetzt) die Schranken gewiesen werden konnte. Nach 2019, als Corona begann und die Welt in Quarantäne hielt – in Spanien mit besonders vielen tragischen Toten, gerade auch durch den Weltfrauentag 2020 spaltete die Bewegung sich auf und hatte sich abgeschwächt, zumindest wenn die Zahlen der Teilnehmer der Demonstrationen betrachtet werden. Deutlich ist aber, dass die Zahl der Femizide in Spanien abgenommen hatte, ob nun durch diesen Feminismus oder nicht, sei dahingestellt, gegen 2008 gab es mit 76 Morden den Höhepunkt, danach nahm diese Zahl konstant ab. Sie ähneln inzwischen der Anzahl der Femizide in Deutschland (im Verhältnis zur Bevölkerung).

Was kann dem entnommen werden? Was den spanischen Feminismus antrieb, waren überwiegend sehr basale zivilisatorische Standards, welche durch die spanischen Männer bestialisch und anschaulich, ja geradezu terroristisch zerstört worden sind. Den Feminismus trieb nicht allzu viel Theorie, dafür umso mehr Politik, das Bedürfnis, sich als Kollektiv gegen diese Barbarei zur Wehr zu setzen. Es bedarf nicht viel Überlegung um zu sehen, dass die Zurückdrängung von häuslicher Gewalt und Morden gegen Frauen eine einfache politische Wahrheit ist, die aus einer wissenschaflichen oder soziologischen Wahrheit – der Statistik der Morde und der Anschauung der schrecklichen Einzelfälle folgt und eben jene Wahrheiten trieben die Menschen auf die Straße – leider überwiegend Frauen und wenige feministisch gesonnene Männer. Wenn also nicht sonderlich viel Theorie die Menschen auf die Straße trieb, so gab es dafür umso mehr Theorie, welche aus dieser politischen Betätigung folgend von Journalisten, Theoretikern und anderen an der Sache vollzogen worden ist. Überwiegend ist der Tenor ungefähr der, dass der spanische Feminismus eine Art „Verwerfung“ der Übertheoretisierung darstellt, außerdem eine Wiedergewinnung des Begriffs der „Frau“ – und damit einen Antagonismus zum „Mann“, bei gleichzeitigem Versuch, nicht in die transphobischen und rassistischen Ideen der sogenannten „zweiten Welle“ des Feminismus zu verfallen; wobei natürlich hinzuzufügen ist, dass es sich hier um Meinungen gebildeter Feministinnen, Journalistinnen usw. handelt, die sich zu einer repräsentierenden Rede hinreißen, die vielleicht bei den vielen aktiven gar nicht anzutreffen ist. Entscheidender wäre eigentlich zu ermitteln, was die Aktivisten selbst sagten. Angenommen, das wäre aber wahr: In diesen Eigenschaften ähnelt der spanische Feminismus der vierten Welle etwa den Überlegungen zur vierten Welle aus dem amerikanischen und britischen Ausland, welche ebenfalls eine Wiedergewinnung des Subjekts „Frau“ bei gleichzeitigiger Wahrhung der Erkenntnisse der Intersektionalität und der Abwehr der Transphobie. Häufig wird Mee Too in diese Kategorie gerechnet, wenngleich hier die Möglichkeit der „Zuordnung“ nach Eigenschaften etwas schwierig wird.
Eben diese doppelte Abgrenzung: 1. Einerseits die Wiederaufnahme des Subjektbegriffs der Frau, 2. andererseits die Verwerfung der transphobischen und die Intersektionaltät missachteten Probleme markiert die inhaltliche Abhebung gegen die bisherigen Wellen. Es wird in Annäherung an die zweite Welle des Feminismus der Begriff der Frau wiederaufgenommen, dieser Welle aber auch widersprochen, indem die Frau nicht biologisiert, substanzialisiert, ethnifiziert und kulturalisiert wird, zugleich in Annäherung an die dritte Welle die Kritik an dessen biologischer und weißer Substanzialisierung bewahrt, in Abgrenzung zu derselben aber das Subjekt der Frau proklamiert und den individualistisch-neoliberalen Tendenzen widersprochen. Diese Bestimmung ist offenbar hauptsächlich negativ, was allerdings, wie die Geschichte zeigt, bei neueren Erscheinungen nicht selten passiert: Sie sind weder wie die Gegenwart, noch wie die Vergangenheit. Wer an dieser neuen Wahrheit partizipiert, nimmt an dieser doppelten Abgrenzung teil, wer die Bewegung verwirft, meist deswegen, weil das Neue zu nah an der Vergangenheit (die zweite Welle) oder der jüngeren Gegenwart (dritte Welle) gesehen wird. Negativität zeigt die Abhebung einer neuen politischen Bewegung gegenüber althergebrachten Begriffen und der Geschichte, und das neue ist folglich dasjenige, welches gegenüber bisherigen Perioden universell besonders und auch negativ besetzt ist. Aber selbst dann, wenn allein diese zwei negativen Bestimmungen gesetzt sind, zeigen sich Widersprüche; der offensichtlichste ist sicher, dass in Spanien ab 2021 wieder eine Spaltung in der feministischen Bewegung zu vermerken ist, welcher der zwischen der zweiten Welle (transphobisch, prostitutions-und-pornographie-abolitionistisch) und der dritten Welle (transfreundlich, sexpositiv, nicht gegen Prostitution und Pornographie) entspricht; eine Spaltung, welche gleichzeitig mit einer zahlenmäßigen Abschwächung einhergeht. Die Charakterisierung der „vierten Welle“ ist also nur mit viel Phantasie oder mit viel interpretatorischer Gewalt – was ungefähr auf etwas Ähnliches hinausläuft, zu tätigen, da sie nicht einmal „stabil“ geblieben ist und nun offensichtlich wieder in klassische Spaltungen zerfällt, die dem Feminismus in westlich-demokratischen Gesellschaften wohl allgemein auszeichnet.
Klar ist aber, dass mit etwas Abstand etwas festgestellt werden kann: Die Realität der Feminzide und der häuslichen Gewalt, sichtbar in wissenschaftlichen Untersuchung, verbreitet im spanischen Fernsehen, hat an den Punkt geführt, die ständige Selbst-Infragestellung des Subjekts der Frau und ihres Gegensatzes zum Mann zu unterbrechen, sodass dann diese Kollektivisierung und diese feministische Welle entsprungen ist; und diese Bewegung war, wie es scheint, auch relativ effektiv. Ein Blick „von oben“, also ein „panoptischer Blick“, ein „neutrales“ und „objektives“ Feststellen, ein hantieren mit Statistiken und wissenschaftlichen Fakten wurde von ihnen gegen die Dogmen der Postmoderne getätigt und wird nun – Foucault möge mir verzeihen – anstelle der teilweise widersprüchlichen und historisch offenbar widerlegten Selbstcharakterisierungen beschreiben, was hier „passiert“ ist. Wie gesagt, besteht hier keine Übertheoretisierung, aber Politik ist durchaus ein Denken und hat mit tätiger Allgemeinheit zu tun. Die politische Bewegung beginnt offenbar 1.1 mit dem Einzelfall von Ana Orantes, der philosophisch gesehen also durch eine Meinung erfasst wird, die sich an die Geschichte in den Medien richtet, und welche eine unmittelbare Identifikation, ein sich-in-ihr-finden bei anderen Frauen auslöst (oder bei Männern eine Identifizierung mit dem, was ihren Müttern, Schwestern, Töchtern, Freundinnen passiert ist und passieren kann) 1.2 dann der Beziehung dieser zerstreuten Einzelfälle auf einen Begriff der „Frau“ in der Gegenwart Spaniens, dass diesen Einzelnen also diese Gewalt wiederfahren kann 1.3 Dann die Bindung an die quantitative Forschung, die im Fernsehen auftaucht und welche dieser Bezugnahme von Gewalt und Allgemeinheit der Frauen eine nähere und wissende Bestimmung gibt, die aber als ein veränderlicher allgemeiner Sachverhalt gefasst wird 1.4 Die Bewegung zurück zum Einzelnen und Bestätigung, dass diese Einzelfälle keine Einzelfälle sind, nicht nur zerstreute Meinungen also, sondern Meinungen über das Reale und Repräsentanten des Allgemeinen. Es bildet sich eine „Einbettung“ des Einzelfalls in das Allgemeine und umgekehrt (was sich als Garbentopos oder Yoneda-Embedding des Einzelfalls beschreiben ließe) 2. heraus die Kollektivisierung, die Demonstrationen und das Engagement für diese „Frauen“ folgt, um 3.1 dafür zu sorgen, dass die Morde an Frauen, die häusliche Gewalt im Allgemeinen herabgesetzt wird, möglichst auf null oder auf die deutlich geringere Menge an Mord und Gewalt, welche seinerseits die Männer von den Frauen erfahren, es folgt 3.2 also auch daraufhin, dass die private Einzelsituation oder die als Einzelner bekannter Frauen verbessert wird, diese terminale Situation soll die sein, die man irgendwann also selbst im persönlichen Umfeld „wahrnimmt“. Die politische Bewegung, gefasst in Massenbewegungen und Organisationen, versehen mit Verbündeten und Gegnern wird durch also durch sichtbare Einzelfälle mit Wissenschaft initiert und terminiert darin, ein anderes wissenschaftliches Ergebnis und andere Einzelfälle zu haben; diese Wissenschaft ist aber die über die quantitativen und statistischen Verhältnisse der Gewalt in den heterosexuellen Beziehungen, in denen sich die Frauen als bloße Inkarnation eines Allgemeinen „wiederfinden“ und kollektiv „identifizieren“, während die Männer diese Erfahrung ebenfalls mit denen ihrer Schwestern, Mütter, Frauen, Freundinnen, Töchter assoziieren können. Sie haben selbst alle in unterschiedlichem Maße selbst diese Art von Gewalt erfahren, sodass sie diese Daten interpretieren können, auch können sie die Berichte von besonders schrecklichen Einzelfällen, wie etwa der Mord an Ana Orantes durch diese wissenschaftlichen Daten einordnen, d.i. ermesssen, inwiedern es kein Einzelfall ist; die Bewegung legt es dann darauf an, dass nicht irgenwelche Einzelfälle besser werden, sondern eben die Allgemeinheit der an der patriarchalen Gewalt leidenden, insofern wird diese Allgemeinheit auch „aktiv“, tritt aus der Opferrolle heraus und schafft neue Verhältnisse für die Allgemeinheit. All das ist natürlich unmöglich, ohne ein Moment der gegenseitigen Identifizierung, des Sich-im-anderen-erkennens, des Sich-als-Frau-Fühlens zu haben, also der Bezug des Einzelnen auf das Allgemeine und ebenso ist es auch unmöglich, wissenschaftliche Daten über Frauen zu erheben, wenn es nicht zugleich ein „Subjekt“ oder auch „wissenschaftliches Objekt“ der Frau gibt, über das man Messungen erstellen kann, und auch solche gibt, die keine Frauen sind. Alles beruhte auf der Grundidee, dass es eine wissenschaftlich erfahrbare, nach allgemeinen Strukturen geformte Realität gibt, die sich zugleich politisch änderrn lässt (also materiell ist). Bei Meetoo, wo „noch weniger Theorie“ existierte, findet sich zunächst keine Wissenschaft vor, nur gegenseitige Kommunikation über Einzelfälle (auch wenn wahrscheinlich der Referenzwert, wie viele solcher Fälle es insgesamt und statistisch gibt, auch eine zentrale Rolle spielte) aber, wie bereits der Name anzeigt, beruht es wesentlich auf einer Identifizierung – „mee too!“, dem Erkennen, dass man ein ähnliches Schicksal hat, ein Ausbruch aus der Individualität, der eben konstitutiv für Politik ist; Meetoo hat mittelfristig auch für neue Datenerhebungen gesorgt und dann auch Organisationen gesorgt, welche diese Fälle des Missbrauchs verfolgten. Tatsache ist: an diesen Bewegungen lässt sich ein sehr einfacher, eigentlich „banaler“ Praxis-Zyklus von 1. initialer Feststellung der allgemeinen Situation in heterosexuellen Verhältnissen / dem Mann-Frau-Verhältnis, in Bezug auf Einzelfälle gebracht um die Emotionen zu binden 2. politischer Bewegung als Transformation des gesellschaftlich Allgemeinen, 3. terminaler Feststellung einer hoffentlich neuen allgemeinen, freieren und gleicheren Situation in heterosexuellen Verhältnissen / dem Mann-Frau-Verhältnis erkennen, die dann auch auf Einzelfälle bezogen werden. Dieser Zyklus wäre offenbar unmöglich, wenn es keinen feststellenden (theoretischen) und praktischen (formenden) Bezug zur Realität der allgemeinen Situation gibt, und er wäre unmöglich, wenn es keine transformierbare, materielle Allgemeinheit der Frau gibt, was auch immer unter „Frau“ gemeint sein mag. Frauen müssen sich und andere in diesem Allgemeinen der Frauen-überhaupt wiederfinden, um ein „Wir“ zu bilden und sich gegen ein „Sie“ abzugrenzen. Er ist vom Begriff her der Tendenz „materialistisch“, inwiefern die allgemeinen, realen Verhältnisse als etwas abänderliches und kontingentes begriffen werden, sonst wäre es auch unmöglich, ihre Änderung bewirken zu wollen. Der Prozess steht einem machistischen Konterprozess entgegen, welcher die Verhältnisse reproduzieren will, entweder unmittelbar in Gestalt offener patriarchaler Gewalt, oder indem die Gründe für die patriarchale Gewalt reproduziert werden sollen (Machtverhältnisse in der Ehe, christliche Kultur, sonstige Merkmale), zuletzt ist es auch plumpe Trägheit der Verhältnisse – es ist im Vergleich ein Prozess, welcher als reproduktiver oder konstativer in seinem eigenen Anfang terminieren will und welcher mit dem Staat und der Gesellschaft im Ganzen verschmolzen ist. Dieser Konterprozess muss vom feministischen Prozess außerhalb des Staates überwunden werden, er darf sich aus keine Kompromisse einlassen, er darf nicht korrumpiert werden, er darf nicht kraftlos werden und er muss in der Lage sein, genügend aktive politische Kräfte auszuheben (durch die Wissenschaft und eine politische Einheit), und das wird er so lange tun, bis der Staat oder die Gesellschaft den eigenen Werten entspricht, d.i. die Trägheits- und Reproduktionskräfte überwunden sind und dann selbst eine Situation reproduziert werden, in denen die Frauen so wenig Gewalt erfahren wie die Männer. Dies ist, was ich an einer anderen Stelle als „einfachen Prozess der Befreiung der Liebe“ beschrieben habe, eine kollektive Transformation der kollektiven Situation hinsichtlich der privaten Verhältnisse (etwa die Familien, die Freundschaften, das Dating). Prozesse der Poltik scheinen stets kollektive Subjekte zu ihrer Voraussetzung zu haben, und das gilt natürlich auch für solche politischen Prozesse, welche in die Liebe eingreifen. Wenn Badiou die Liebe in ihrer „Gefährlichkeit“ und ihr „Risiko“ romantisiert, scheint er völlig zu unterschlagen, dass diese Gefährlichkeit und das Risiko absolut einseitig auf der Seite der Frauen liegt (denn fast immer sind die Frauen die, die ermordet werden), und dass dieses Risiko keinesfalls bloß das eines privaten Liebes-Wahrheitsprozesses ist, sondern selbst aus strukturellen Ursachen folgt, die sich politisch verändern lassen und in einer gegebenen Periode der Zeit so sind wie sie sind, weil es politische Vorgänge gibt, welche sie an diesen Punkt gebracht haben. Liebe ist nicht von der Politik abgeschnitten.
Nun könnte man allerdings, mit etwas weiterem Abstand fragen: Ist dann nicht auch dere Machismus als eine Art von politischem Prozess zu betrachten? Das ist er in der Tat. Was unterscheidet ihn aber vom Bestreben der Frauen? Es gibt nicht wenige Männer, vor allem in Spanien, welche sich ebenfalls von den Frauen und natürlich auch vom Feminismus bedroht fühlen, von „Feminazis“ sprechen und sich übel als Mann unterdrückt fühlen. Und auch sie verweisen dann auf schreckliche Einzelfälle, die sie politisieren. Es mag Einzelfälle geben, sogar von Morden und Gewalt von Frauen an Männer, und sie werden natürlich entsprechend auch ständig hervorgeholt als Mittel der Mobilisierung. Der Unterschied aber ist, dass sich die Gewalt von Frauen gegen Männer und überhaupt die Unterdrückung von Männern gegen Frauen einfach nicht messen lässt, dass sie statistisch fast untergeht. Die quantitative Sozialforschung, also die Statistik oder Wissenschaft ist es, welche deutlich macht, dass die Unterdrückung von Männern gegen Frauen erfolgt und nicht umgekehrt. So mag es also passieren, dass Männer sich durch Einzelfälle politisieren und meinen, dass sie ganz schwer unterdrückt werden, dann aber an der Statistik sehen, dass sie eben ungünstige Einzelfälle sind, und dann die machistische Politisierung lassen. Die meisten Machisten lassen sich davon natürlich nicht beeindrucken, und ignorieren die Statistik – sprechen dann von der hohen Dunkelziffer an häuslicher Gewalt gegen Männer, weichen auf Verschwörungstheorien aus. So wichtig also Einzelfälle in der politischen Bühne sein mögen, um die Menschen in Bewegung zu setzen so ist das entscheidende eigentlich die wissenschaftliche Erfassung von quantitativen Verhältnissen. Das bedeutet aber auch, dass Menschen, welche von Statistiken, dem „Blick von oben“ und wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts wissen wollen, also etwa die Postmodernen und speziell Foucault, sich gerade dagegen abdichten, dass chauvinistische und ungerechte politische Bewegungen, welche die Machtverhältnisse erhalten wollen, zum erliegen kommen. Wer von Statistiken nichts wissen will, kann sich auf der Suche nach Befreiung schwer verirren und zu einem unbelehbaren, vom Diskurs hermetisch abgedichteten Unterdrücker werden. Die Vorstellung von machistischen Gruppen, welche in Zuge von Foucault und ähnlichen postmodernen Denkern die wissenschaftlich nachweisbaren Unterdrückungsverhältnisse ignorieren, ist keineswegs ein bloßes Gedankenspiel: Es ist faktisch so, dass die neue Rechte, die überall auf der Welt, aber natürlich in Spanien ebenfalls auftritt, häufig „postmoderne“ Gedankenkonstrukte, also insbesondere eine Verwerfung von Wissenschaft, als neue Waffe gegen die Linke wendet: Trump hat sich bereits hervorgetan, von einer Postfaktizität zu sprechen. Wenn es aber keine Fakten gibt oder diese keine Relevanz haben, setzt sich natürlich der Stärkere durch, denn es ist nicht apriori klar, dass Männer Frauen unterdrücken und nicht umgekehrt, alle können sich immer auf zerstreute Einzelfälle berufen. Im spanischen Feminismus stand keine „Überlegung“ dahinter, auf Statistiken und ähnliches zurückzugreifen, um die neue Rechte zu besiegen, und es mag sein, und es wird so sein, dass unter den spanischen Frauen mehr Foucaultianerinnen waren als bei den Männern – de facto haben die Frauen aber, aus Versehen, eine Strategie gewählt, welche bestimmte Tendenzen der Neurechten Bewegungen kontert, die ehemals linke „postmoderne“ Strategien kopieren: Gegen den Subjektivismus versammelten sie sich unter der Idee, dass es nämlich real existierende, messbare Unterdrückung gibt, dass diese nicht nur mobilisiert, sondern auch zeigen kann, wer der reale Unterdrücker ist. Es ließe sich nun sogar eine strittige These aufstellen, die ein Resümee aus diesen Verhältnissen zieht: Wer von Einzelfällen der Erfahrung von Unterdrückung und Gewalt spricht, ohne diese in den allgemeinen, statistischen Zusammenhang einzubetten, verübt möglicherweise Propaganda. Und weiter: Wer den „Blick von oben“ oder „die Sprecherposition“, ja überhaupt die wissenschaftliche Betrachtung der realen, quantativen Verhältnisse verurteilt, wie es in der Postmoderne geschieht, lässt alles zu gleichwertiger Propaganda werden und übergibt damit das politische Feld der Herrschaft des Stärkeren. Mit diesem Argument der statistischen Verhältnisse lassen sich im übrigen auch die transphobischen Tendenzen mancher feministischer Bewegungen ausschalten: Es ist nämlich nicht nachweisbar, dass die Transfrauen so gefährlich sind, wie die Cisfrauen gerne behaupten, vielmehr zeigen sie die gleiche statistische Wahrscheinlichkeit von Kriminalität und Sexualdelikten wie Frauen; sie haben sogar, wieder statistisch gesehen, noch ein viel höheres Maß an Gewalt, Unterdrückung, Armut, Depression und Ausgrenzung zu erleiden als Cisfrauen.
Deutlich ist: „Die Wissenschaft“ und „die Einzelfälle“ sprechen nicht unmittelbar dazu an, politisch zu werden, es gibt keinen direkten Weg vom Sein zum Sollen. Der Anblick von Leid, auch allgemeinem Leid, regt (leider) nicht alle Menschen dazu an, sich zu betätigen, um es abzuschaffen, das zeigen die machistischen politischen Prozesse, welche direkt chauvinistisch sind und die Ungleichheit und Unfreiheit affirmieren, selbst wenn sie diese wahrnehmen. Es muss etwas „hinzutreten“, eine Art von Werte oder Normenverhältnis. Das wäre im gegebenen Falle die Konsensualität und Gleichheit im Mann-Frau-Verhältnis; es sind diese Werte, die eigentlich von De Gouges und Wollstonecraft herrührend als im Feminismus „unverhandelbar“ vorausgesetzt werden und auch unabhängig von ihnen für alle evident sind; eben diese Werte sind es, welche hier ebenfalls „tätig“ sind – tätig in den Aktivisten und Organisationen. Die politische Bewegung, gefasst in verschiedene Strukturen, Versammlungen, Unterschriftensammlungen, Organisationen ist die „Anwendung“ dieser Idee auf die Wirklichkeit, so lange, bis die terminale Situation herbeigeführt ist, und diese fortan reproduziert wird. Die Konsensualität und Gleichheit tritt entsprechend Kräften gegenüber, welche diese Werte missachten; sodass sogar die Wahrung dieser Standards gegenüber eintreffenden einzelnen Erfahrungen und wissenschaftlichen Studien über die allgemeinen Verhältnisse als „Tätigkeit“ von praktischen Wahrheiten beschrieben werden kann, die von Wollstonecraft und De Gouges fixiert worden sind, dabei auf Rousseau und die Idee praktischer Vernunft zurückgreifend. Während es durchaus möglich und notwendig ist, wissenschaftliche Erkenntnisse und Kenntnis der Einzelfälle zu verbreiten (wie etwa im spanischen Fernsehen), um weitere Aktivisten für die Sache zu gewinnen und der Bewegung Kraft zu verleihen, ist es nicht möglich, diese Idee der Konsensualität und Gleichheit in den Menschen hervorzubringen, sie ist entweder da oder nicht da. Die Selbstjustiz, die Mordgier und Niedertracht der Männer zeigt in besonders eindrücklicher Weise an, dass es möglich ist, biologisch gesehen ein Mensch zu sein, ohne diese Werte zu teilen; und ähnliches gilt deutlich abgeschwächt für die Leute, welche die Statistiken sehen und dann nicht feministisch politisiert werden. Es gibt einen Graben zwischen den „Theorie“ und der „Praxis“, und genau hier ist „Philosophie“ oder auch konkret ein „philosophischer Funktor“ (wenn diese kategorientheoretische Metapher erlaubt sein mag) tätig als der Verknüpfung von Theorie und Praxis, Wissenschaft und Politik. Diese „Gleichheit“ und „Konsensualität“ tritt aber nicht vollständig zufällig in Interaktion mit den durch die Wissenschaft entdeckten, veränderlichen Sachverhalten, denn eine fixierte und ungleiche Form des Daseins ist eine, welche gegen die Konsensualität und Gleichheit verstößt, umgekehrt führt die Idee der Zufälligkeit und Veränderlichkeit menschlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, insbesondere auch der Familie, also der Materialismus zur Idee der Konsensualität und Gleichheit. Wenn es nämlich ebensogut sein kann, dass Männer, wie auch das Frauen herrschen, wenn es keine natürliche Regel gibt, so gibt es entweder Chaos oder eben die in der Gesellschaft durch Konsens ersonnenen Regeln. Und die Gleichheit ist der „Kompromiss“ aus dieser Konsensualität, wer wie viel Besitz, Freude und Zeit (hier ließe sich noch viel anführen) in einer Beziehung erhält. Rousseau – und mit ihm der Frühsozialismus und der Feminismus der ersten Welle, die seine Ideen auf die Liebesbeziehung übertragen haben – sind „materialistische“ Denker, ganz egal wie viel sie über „Vernunft“ reden. Insofern ist der Feminismus, aber auch alle anderen Bewegungen partikularer Gruppen, welche die Gleichheit und Konsensualität erkämpfen, ein Wirksamsein des Materialismus und der Aufklärung in der Geschichte. Dem stehen essentialistische Ideen gegenüber, dass es eine festgelegte natürliche Ordnung gibt, etwa die von Aristoteles, dass Frauen grundsätzlich dem Mann untergeordnet sind – folglich sind alle Abweichungen davon eine Störung der natürlichen Ordnung, dies ist der natürliche weltanschauliche Feind des Materialismus. Eben dieser materialistische Impuls gegen die Essenzen, das explizitere und in Rücksicht auf die Tradition vollzogene Verknüpfen von Wissenschaft und Politik soll auch in der Liminal-Philosophie, die ich ersinne, aufgenommen und mit den gegenwärtigen Formen des Feminismus – also gerade auch den Spanischen – innig verbunden werden, sich aus ihnen verstehen.
Andererseits gibt es auch alternative Begriffsbildungen, welche diesen „Übergang“ von der Wissenschaft in die Politik leisten, und die es in unterschiedlich ausgearbeiter Form bei den femnistisch politisierten gibt: Es kann nach der Façon klassischer Metaphysik auch angenommen werden, die Gleichheit der Geschlechter wäre ein „natürlicher“ Zustand, oder, was in eine ähnliche Richtung geht, es kann imaginiert werden, dass es mal einen Urzustand der Gleichheit gab, der dann zerstört worden ist (historische Matriarchatstheorien). All diese Formen würden aber die substanzialistische Fassung des Mann-Frau-Verhältnisses nur wiederholen, welche in den patriarchalen Theorien angelegt ist, sie setzen einen aristotelischen Substanzialismus, ein finistisches Weltbild voraus, welches mit der heutigen infinitistischen Wissenschaft, die etwa auch die Evolutionstheorie umfasst, einfach nicht kompossibel gemacht werden kann. Von einer Natur der Frau zu reden ist philosophisch fragwürdig und das historische oder prähistorische Matriarchat ist wahrscheinlich historisch falsch, und wenn es wahr wäre, so wäre es ebenfalls eine philosophisch sehr fragwürdige Begründung, es deswegen wiederherstellen zu wollen. Klar ist aber: Die weltanschauliche Frage – Materialismus oder Essenzialismus – ist von den politischen Prozessen selbst unabhängig, sie müssen sich in dieser Hinsicht auch nicht „festlegen“. Eine politische Bewegung sollte sich nicht auf eine „Philosophie“ im Sinne einer Weltanschauung oder im Sinne einer Rechtfertigung des Übergangs von Sein zum Sollen einschießen – das wäre ein politisches Desaster nach Badiou – sondern sollte dahingehend neutral sein: Es geht in der Politik nur um Wissenschaft, die gemeinsamen Ziele und Mittel, in zweiter Instanz um die Einzelfälle und Organisationen, nicht aber um Weltanschauungen. Nur in der philosophischen Auseinandersetzung, die davon zu trennen ist und etwa bei den feministischen Philosophinnen stattfindet, werden diese Dinge dann verhandelt – idealiter in steter Bezugnahme und Unterordnung unter die politischen Prozesse welche es gab und die geschehen sind, und die natürlich stets wichtiger sind als ein professioneller oder weniger professioneller philosophischer Diskurs.
Desiderate:
- Wie ist das Verhältnis von Einzelfall und Kollektiv/Allgemeinem zu fassen? Sowohl hinsichtlich der Täter wie der Opfer, der Aktivisten und der politischen Bewegung im Ganzen? Wie übertragen sich Gefühle vom Einzelfall in das Allgemeine und zurück? Es ist das allbekannte Universalienproblem – nur gefasst in der Politik. Alles geht nur um die Individuen, und doch ist es in der (egalitären und demokratischen) Politik immer nur das Allgemeine was als politischer Referenzpunkt funktionieren kann.
- In welchem Verhältnis steht die individuelle Erfahrung, die sich als materialistische Phänomenologie der Gender-Unterdrückung fassen lässt, zu der Betrachtung „von oben“, welche den politischen Prozess ansieht, und inwiefern kann die Philosophie hier eine Vermittlung leisten? Wie verhält sich diese Phänomenologie zu den Liebesbeziehungen, in denen diese Erfahrung der Unterdrückung erst „stattfindet“?
- In welcher hinsicht können politische Bewegungen „demokratischen“ und „diktatorischen“ Charakter haben, weil nur eine kleine Spitze voransteht, und inwiefern macht dies einen Unterschied oder ist zu problematisieren?
- Welche „Konflikte“ lassen sich durch die Betrachtung der wissenschaftlichen Zusammenhänge, der Statistiken und dergleichen auflösen? Welche Konflikte lassen sich nicht auflösen?
- Wie sind die Mobilisierungswellen der zweiten und dritten Welle des Feminismus zu fassen? Sind sie wirklich so verschieden? Wie verhalten sich deren Theorien zu den jeweiligen Mobilisierungen? Hat die Theorie eine anführende Stellung, wie es manchmal bei Leninisten gedacht wird? Oder „Erntet“ eine Theorie die neuen Bedeutungsbezüge einer politischen Strömung sodass sie für die Nachwelt als „Flaschenpost“ eine Lehre mitgibt, wie bei Hegel? Oder kann es auch zu unmittelbaren Zirkel zwischen Theorie und Politik kommen, also einem wechselseitigen Austausch und einer Reflexion des eigenen Tuns?
- Wie ist es möglich, dass der „Begriff der Frau“ eine historische Transformartion erfahren hat? Ist es möglich eine konsistente Theorie zu bilden, dass sich der Referent dieses Begriffs historisch transformiert, sodass er beginnt, über die Hetero-Frauen hinaus auch lesbische und bisexuelle, dann transsexuelle Frauen zu umfassen und möglicherweise in Zukunft „noch genauer“ fasst, um was es hier geht? Ist es möglich, „Frau“ als Signifikat zu fassen, dessen Referent sich transformiert?
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